saitn_kl.gif. . . . . . . . . . 29. Juli 1997 . . . . . . . . . . SAIT_NO3.GIF 

Soundscape

Warum ein einziger Tenor ein Hundert-Mann-Orchester übertönen kann

Komm, sing mit!

Aber wie funktioniert unsere Stimme eigentlich? – Der zweite Beitrag unserer Serie bietet einen Überblick über die Funktionsweise und Aus-drucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme.
von Werner Goebl und Paul Wilscher

Die menschliche Stimme besteht physikalisch im Prinzip aus einem Motor (Lunge), einem Schwingungserzeuger (Stimmlippen) und einem Resonanzraum (Kehlkopf, Rachen und Nasenhöhle).

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Atmung – der Motor unserer Stimme

Beginnen wir mit dem fließenden Luftstrom, der durch die Atmung in der Lunge erzeugt wird: Im Gegensatz zur Ruheatmung, bei der aktiv durch Heben des Zwerchfells (Bauchatmung) und der Atemmuskeln des Brustkorbes (Brustatmung) eingeatmet und passiv durch Erschlaffen dieser Muskeln ausgeatmet wird – wobei Aus- und Einatemphase annähernd gleich lang sind – , wird bei der Sprech- und Singatmung ein anderes Atemmuster aktiviert, das sich in drei Punkten wesentlich von der Ruheatmung unterscheidet:
– Es wird tiefer eingeatmet.
– Die Ausatmung erfolgt aktiv, d.h. die Atemmuskeln führen den Brustraum langsam und kontrolliert in die Ruhelage zurück (Atemstütze oder Appoggio).
– Es wird nicht nur bis zur Ruhelage der Lunge ausgeatmet, sondern der Brustraum wird darüber hinaus noch weiter verengt.

Kehlkopf und Stimmlippen – der Schwingungsgenerator

Das Knorpelgerüst des Kehlkopfes besteht aus vier Knorpeln, dem Schildknorpel, der sich als "Adamsapfel" am Hals abzeichnet und sich beim Schlucken, aber auch beim Singen von hohen Tönen, verschiebt, dem darunterliegenden Ringknorpel und den beiden dreieckigen Stellknorpeln, an denen die Stimmlippen ansetzen. Die zwischen der Innenfläche des Schildknorpels und den Stellknorpeln aufgespannten Stimmlippen bestehen aus zopfartig verflochtenem Muskelgewebe (M. vocalis) und an ihren inneren Rändern aus dehnbaren Membranen (Stimmbänder).

Der Raum zwischen den Stimmlippen wird als Stimmritze (Glottis) bezeichnet, oberhalb der Stimmlippen befinden sich faltenartige Vorwölbungen, die Taschenfalten, die jedoch nur wenig zur Stimmgestaltung beitragen.

Wie entsteht aber jetzt in diesen – doch recht komplizierten – anatomischen Strukturen eine Schwingung im hörbaren Bereich? Um einen Sington zu erzeugen, werden die Stimmlippen am Beginn der Ausatemphase verschlossen, und die aus der Lunge ausströmende Luft erzeugt unterhalb der Stimmlippen einen Überdruck, der aber nur wenig, etwa 1%, über dem äußeren Luftdruck liegt.

Dieser geringe Druckunterschied reicht aber aus, daß die Stimmlippen zur Öffnung gezwungen werden und Luft entweichen kann. Die Engstelle der Stimmlippen erzeugt einen Effekt, der als aerodynamisches Paradoxon bezeichnet wird:

Wenn Luft zwischen zwei beweglichen Platten (den Stimmlippen) durchströmt, entsteht ein Unterdruck, durch den sich die Stimmlippen wieder aufeinander zubewegen und geschlossen werden. Durch den sich nunmehr wieder aufbauenden Druck unter den geschlossenen Stimmlippen werden diese wieder geöffnet. Erfolgt dieser Wechsel zwischen Öffnen und Schließen einige hundertmal pro Sekunde, entsteht eine Schwingung (Bernoulli-Schwingung) im hörbaren Bereich.

Zur Verdeutlichung dieser – vielleicht etwas "trockenen" – Beschreibung zwei leicht nachvollziehbare Versuche: Hält man zwei Blätter Papier senkrecht und parallel zueinander und bläst dazwischen hinein, weichen sie nicht auseinander, sondern bewegen sich aufeinander zu – das aerodynamische Paradoxon! Oder man kann aus einem aufgeblasenen Luftballon durch Auseinanderziehen des "Mundstücks" quietschende Geräusche erzeugen – auch das funktioniert nach dem gleichen Prinzip! Die Höhe des so erzeugten Tones hängt vor allem von der Spannung und der Dicke der Stimmlippen ab: Längere Stimmlippen schwingen langsamer (tiefe Männerstimmen) als kurze (höhere Frauenstimmen). Die Dicke der Stimmlippen wird v.a. durch die Muskeln der Stimmlippen beeinflußt: Dicke Stimmlippen schwingen langsamer (kontrahierte Muskeln; Bruststimme) als dünne (entspannte Muskeln; Kopfstimme).

Der Klang, der im Kehlkopf erzeugt wird, ist sehr obertonreich: sein Grundton ist am stärksten, die Obertöne nehmen in ihrer Stärke nach oben hin logarithmisch ab (-12 dB pro Oktave). Diese einfachen Schwingungen, die von den Stimmlippen erzeugt werden, bilden aber nur das "Rohmaterial" unserer Stimme, die wesentlichen Klangqualitäten werden im Resonanzraum des Vokaltraktes erzeugt.

Der Resonanzraum

Zwischen den Stimmlippen und der Mundöffnung befindet sich der Resonanzraum der menschlichen Stimme, der in drei Stockwerke unterteilt werden kann (Kehlrachen, Mundrachen und Nasenrachen). Physikalisch kann der Resonanzraum stark vereinfacht als (beidseitig geschlossene, gekrümmte) zylindrische Röhre betrachtet werden.

Ein solcher Hohlkörper besitzt bestimmte Eigenresonanzen, d. h. einige Frequenzbereiche des eingestrahlten Spektrums, die nahe an diesen Resonanzfrequenzen liegen, werden verstärkt, Teilbereiche, die nicht in diesen Bereichen liegen, sind im abgestrahlten Klang praktisch nicht hörbar. Die Lage der Grundresonanz und der Obertöne ist stark von der Geometrie (v. a. Länge und Durchmesser) des Resonanzkörpers abhängig.

Doch ist dieser hier abgestrahlte Klang (Quellen-Spektrum) lediglich das Rohmaterial von Sprache oder Gesang. Durch gezielte Veränderung unseres Resonanzraumes – z. B. das Absenken des Kehlkopfes und das Vorwölben der Lippen verlängert ihn – erreichen wir, daß unterschiedliche Obertöne unterschiedlich stark verstärkt werden (Resonanz). Je näher ein Oberton der Resonanzfrequenz des Hohlraumresonators liegt, desto stärker wird er hervorgehoben; liegt er weit davon entfernt, kann er sogar abgeschwächt werden.

Jeder Vokal, den wir sprechen bzw. singen, hat ganz typisch ausgeprägte Oberton-Muster (Spektrum). Man nennt Bereiche verstärkter Obertöne Formanten. Beim „i“ ist z. B. der erste Oberton (die Oktave) und der neunte besonders stark ausgeprägt. Die Vokal-Formanten bleiben bei nahezu allen Grundfrequenzen gleich, d.h. wenn ein Mädchen ein „i“ singt, ist es genauso als „i“ erkennbar, wie wenn's ein Bassist grummelt oder ein Tenor schmettert.

Nur wenn wir einen Vokal singen, wirkt er – im Vergleich zum gesprochenen – dunkler. Diese andere Färbung entsteht nicht zuletzt durch das Absenken des Kehlkopfes, eine Stellung, die wir vom Gähnen kennen. Sänger empfinden diese Glottisstellung als „offen“ oder „weit“, im Gesangsunterricht werden oft Übungen mit Gähnen gemacht, um dieses Absenken des Kehlkopfes in natürlicher Weise zu erreichen.

Warum ein einziger Tenor ein Hundert-Mann-Orchester übertönen kann

Ein Opern- oder Sinfonieor- chester hat sein dynami- sches Maximum bei ca. 450 Hz, das ist genau die Tonlage, in der z. B. ein Tenor seine Melodien singt (der Stimmumfang eines Tenors reicht vom großen A (55 Hz) bis zum hohen c’’ (517 Hz), also gut zwei Oktaven). Die Melodie wird vom Orchester, auch wenn dieses leise zu spielen versucht, schlichtweg übertönt (verdeckt). Man hört ihn aber trotzdem meistens hervorragend. Er nützt einen weiteren, für ausgebildete Tenöre typischen Resonanzeffekt aus: den Sing-Formanten.

In einer bestimmten abgesenkten Stellung des Kehlkopfes entkoppelt sich dieser vom restlichen Resonanzraum (Kehlkopf, Rachen und Mundhöhle) und kann in seiner eigenen Resonanzfrequenz schwingen. Diese liegt Messungen zufolge zwischen 2500 und 3000 Hertz.

Diese Obertöne sind so stark, daß sie vom Orchester, das ja in diesem Bereich des Spektrums nur wenig zu bieten hat, nicht verdeckt werden können. Der Zuhörer kann zwar nicht die Grundtöne des Sängers (Melodie) hören, doch aber seine Formanten. Aus diesen rekonstruiert das Ohr sich ganz automatisch die durch das Orchester verdeckten Grundtöne, und wir können auf diese Weise die verdeckte Melodie des Tenors mitverfolgen.

Diesen Effekt kann man im unterhalb abgebildeten Spektrogramm bestens nachvollziehen.

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In diesem Spektrogramm sehen wir einen Ausschnitt aus der Oper L’elisir d’amore von Gaetano Donizetti. Placido Domingo singt aus der Romanze des zweiten Akts Una furtiva lagrima den Ausschnitt: ...Che più cercando io vo? M’ama... (Was suche ich noch mehr? Sie liebt mich...). Nach oben sind alle vorkommenden Frequenzen (Tonhöhen) abgebildet, nach rechts hin ist die Zeit aufgetragen. Darunter ist zum Vergleich der entsprechende Notentext (Klavierauszug) exakt unterstellt.

Am Anfang ist das Orchester noch alleine, man sieht deutlich, daß es kaum die 500 Hertz-Marke überschreitet (die beiden Linien bei 700 und 1400 Hz sind zwei Teiltöne eines Oboen-Tones). Ganz unten läßt sich das Pizzikato der Kontra-Bässe erkennen (zuerst dreimal F, dann zweimal C), darüber die glatten Linien sind die restlichen Streicher. Die Zerlegungen des Klavierauszugs sind von der Harfe gespielt, daher kaum sichtbar. Leicht zu erkennen ist die Singstimme von Domingo: sie ist durch das Vibrato stark wellenförmig. Der Hub des Vibratos ist ca. ein Halbton, also fast ein Triller!! Man muß genau schauen, um die Melodietöne verfolgen zu können: sie liegen genau im Orchester-Nebel, nur durch das Vibrato zu erkennen. Betrachten wir den ausgehaltenen Klang auf der Silbe vo?. Wir sehen acht Obertöne und den Grundton. Der Grundton (a) hat ca. 353 Hz, das entspricht einem eingestrichenen f. Die ersten beiden Obertöne (b, c) haben die Frequenzen 706 Hz (Oktave) bzw. 1059 Hz (Quint) (wenn man das Vibrato außer acht läßt). Der Sing-Formant ist hier vor allem durch den sechsten (2471 Hz) und siebenten Oberton (2824 Hz) (d, e) dargestellt. Schön ist auch das Hineinschmieren in „vo–“ oder bei „m’ama“ zu sehen.

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