saitn_kl.gifSAI_NO1.GIF30. Juli 1996

Feuilleton

Die Premiere

aus „Ich bin Theatermensch“ von J.-L. BARRAULT.

Tag der Premiere. Und eigentlich ist alles fertig. Doch was geschieht, wenn man merkt, daß kurz vor dem Ziel doch noch alles nicht so ist, wie es sein sollte? ausgewählt von Anna SCHEIDL

Im Theater. Die ganze Belegschaft ist vor Erschöpfung am Rande. Der Chef, wie sie ihn nennen, schaut unbeweglich und starr und wird keine Bemerkung dulden. Er ist in jene „Leidenschafts-Zone“ eingetreten, aus der er nicht mehr herauszubringen ist. Die Bühnenbilder ziehen vor seinen Augen vorbei. Dieses wird herausgenommen werden. Die Umbauten sind sichtlich durcheinander. Es muß nochmals geprobt werden. Die Sekretärin tippt neue Szenen. Man notiert die Umkehrungen. Der Oberinspizient schneidet, völlig erschöpft, die Seiten des Regiebuches in kleine Stücke: Seite 73 wird Seite 53, Seite 53 ist jetzt Seite 67, usw. usw. Es gibt nichts einzuwenden; das Theater hat es mit einem Rasenden zu tun. Der Dirigent wird gerufen: hier verbinden, hier streichen; auch der Komponist komponiert neue Übergänge. Alle schreiben das Material um. Das ist der Untergang! Der Chefbeleuchter findet sich in seinen Plänen nicht mehr zurecht. Um zwei Uhr muß alles neu angefangen werden. Aber der Theatermensch ist in einem derartigen Zustand, daß er dadurch eine neue Macht erhält, die jeder spürt.

Mittag, ein Uhr. Von jetzt an wird nicht mehr auf die Uhr geschaut. Man bringt Brote. Alles ist auf der Bühne. Heute, in diesem Alarmzustand sind alle pünktlich. Vierzehn Uhr: Truppe und Belegschaft sind versammelt.Der Theatermensch gleicht einem mit Drogen vollgestopften Schülervor dem Examen. Auf der anderen Seite des Vorhangs hört man etwas wie ein unfreundliches Meer, oder einen Schwarm aufgestachelter Bienen. Auf der hergerichteten Bühne, inmitten seiner Leute, zieht er seine Jacke aus und reißt seine Krawatte herunter. Er denkt nicht einmal daran, daß er sich nicht rasiert hat, und spielt für alle seine Brüder, für alle seine Freunde, für alle seine Leute, für seine ganze Welt nochmals das ganze Stück. Und das Stück erscheint ganz neu. Die Längen sind verschwunden; und das Werk findet endlich seinen Sinn. Wenigstens glauben das alle. Alle spüren es. Alle anerkennen es. Alle wollen dafür kämpfen. Man befindet sich zwischen Fanatismus, Halluzination, zwischen Wirklichkeit und Luftspiegelung. Es ist vier Uhr. Jeder hat seinen Teil erhalten; man legt die Übergänge fest. Für die Bühnenbilder, für die Beleuchtung, für den Kulissenwechsel, für das Orchester; die Schauspieler verschlingen ihren Text mit einer ungewohnten Leichtigkeit. Es wird sechs Uhr; sieben Uhr vorbei. Nur noch zwei Stunden, und der Vorhang wird hochgehen.Um halb acht Uhr Schluß. Alle entfliehen, um neue Kräfte zu sammeln. D ie Schauspieler suchen ihre Garderobe wieder auf; eine fürchterliche Stille herrscht in den Gängen.... „In fünfundzwanzig Minuten fangen wir an“, der Lautsprecher stöhnt heute abend noch dumpfer als an den andern Abenden.

Draußen werden wohl die Türen geöffnet... Keine Rede davon, heute abend gut zuspielen, der Theatermensch ist dem Kampf zu nahe und zu nahe den Reaktionen dieses besonderen Publikums. Es ist noch zu früh, um hinunterzugehen. Er sucht seine Kameraden auf, er tröstet die einen, scherzt mit den andern, rühmt das Aussehen derjenigen, die geschmeichelt sein wollen, umarmt die Sentimentalen, geht kurz zu den „Alten“, ruft den Zerstreuten einige besondere Tatsachen in Erinnerung. Kurzum, er heizt seiner Truppe ein letztes Mal ein. Die Stimme sagt noch dumpfer: „In einer Viertelstunde fangen wir an.“ Diesmal hält er es nicht mehr aus und steigt auf die Bühne hinunter. Er bringt das Bühnenbild durcheinander, belästigt den Chefbeleuchter, der selbst vor Aufregung weiß wie ein Leintuch ist.

Die Schauspieler kommen ebenfalls an. Er zieht an der Halsbinde des einen, drückt ein frisch gekleidetes Mädchen an sein Herz. Die Truppe ist nur noch ein einziges Nervenbündel, die Bühnenarbeiter sehen wie Tote aus. Der Oberinspizient ist geschäftig. Er eilt plötzlich zum Mikrophon, neigt sich darüber, wie wenn er sich übergeben müßte, und haucht in einem Schmerzenston: „Auf die Bühne für den ersten Akt.“ Auf der andern Seite des Vorhangs hört man etwas wie ein unfreundliches Meer oder einen Schwarm aufgestachelter Bienen, der um die Lichter schwärmt. Entblößte Schultern, schwarze, sorgfältig gebundenen Mäschchen; kahle Köpfe, weiße Haare, Köpfe alter Intellektueller, und dort oben, auf dem Flohboden all unsere Getreuen, die sich über das Geländer beugen, um die bekannten Musiker zu sehen.

Das Lampenfieber ist gut. Es ist nötig, um einen wahren Schauspieler aufzupulvern. Die Bühne ist nun von der Truppe und vom Personal überfüllt; alles bewegt sich; nichts als feuchte Hände, trockene Zungen; das Gedächtnis rennt unter den Füßen weg; man jagt seinem Text nach: das ist die Katastrophe. Der Theatermensch versucht Witze zu machen: An einer Premiere wie dieser neigt sich ein ständiger Flohbodengast über das Orchester, und er erkennt einen Musiker nach dem andern. „Das ist der, das ist jener.“ Seine Frau beruhigt ihn. „Und das ist der X.“ „Was, der X,“ sagt seine Frau, „du bist verrückt, er ist tot.“ „Ja, er ist tot.“ Der Bursche beugt sich noch etwas vor und indem er plötzlich mit dem Finger auf die ergrauten Haare zeigt: „Weshalb sollte er tot sein,“ sagt er, „schau, dort, er bewegt sich ja!“ Das ist ein Ablenkungsmanöver und entspannt vor der entscheidenden Stunde. Aber niemand läßt sich ablenken. Das Lampenfieber ist gut. Es ist nötig, um einen wahren Schauspieler aufzupulvern. „Wir müssen anfangen. Achtung: wir fangen an.“ Ein Schauer überläuft alle. Der Theatermensch schleicht zum Inspizientenpult: „Es ist an dir, mein Lieber!“ Der Vorhang geht hoch...

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