Saitenweise.. . . . . . . . . .30. Juli 1998 . . . . . . . . . . Nummer 7

Artes Iuventutis

Offene Ohren
Für das diesjährige Jugendmusikcamp Edlitz konnte die Komponistengruppe GEGENKLANG dafür gewonnen werden, exklusiv für die jungen Musiker neue Werke zu schreiben, die während dieses Kurses erarbeitet wurden und auch teilweise in den Konzerten zur Uraufführung gebracht wurden. Der über-raschend große Erfolg dieses Projekts läßt hoffen, daß auch beim nächsten Ferienkurs wieder junge und zeitgenössische Musik zu hören sein wird.
Von Gerald Resch

Für junge Musiker zu komponieren bedeutet eine doppelte Herausforderung insofern, als der schmale Grat, der zwischen Überfordern und Unterschätzen liegt, nicht leicht zu finden ist. Wenn Komponisten ihre Werke zur Aufführung bringen, sind sie bereits im Rahmen des Studiums – durchwegs mit sogenannten „professionellen“ – Musikern konfrontiert. Diese Professionalität hat allerdings den Nachteil, daß das Engagement und Interesse an der zu spielenden Musik oft zu kurz kommt. Es gibt viele professionelle Musiker, die jedes Detail im Notentext zwar bereits beim ersten Durchspielen erfassen und umsetzen können, dabei aber keinen Deut mehr an Hingabe und Persönlichkeit einbringen als sie – per Dienstvertrag geregelt – einzubringen verpflichtet sind (was in jedem Fall zuwenig ist).
Bei jungen, „nicht-professionellen“ Musikern kann man – im besten Fall – genau das Gegenteil erfahren: von Natur aus offener und neugieriger als mehr oder weniger unmotivierte Musizierbeamte, sind sie meiner Erfahrung nach gerne bereit, Neues auszuprobieren und dabei die eigene Persönlichkeit miteinzubringen. Auf diese Bereitschaft zur Offenheit muß man als Komponist in besonderem Maße eingehen, ohne freilich zu vergessen, wo die natürlichen spieltechnischen Grenzen eines begabten jungen Musikers liegen.
Hartnäckiges Erüben schwieriger Musik, die auf den ersten Blick unspielbar erscheint, vermag unter Umständen durchaus Energien eines Musikers freizusetzen, von denen er selbst überrascht ist. Ähnlich wie beim Spitzensport ist es eine große Genugtuung, scheinbar Unmögliches durch Überwinden der eigenen Grenzen doch zu erreichen.
Um aber junge Musiker für ein Stück Neuer Musik zu gewinnen, ist es meines Erachtens sehr wichtig, ein unmit-telbareres „Erlebnis“ zu vermitteln: Solch ein Erlebnis kann sein, durch neuartige Spieltech-niken dem eigenen Instrument Klänge abzugewinnen, die man noch nie gehört hat, die aber trotzdem eine Art von Schönheit vermitteln (Schönheit muß nicht immer nur das sein, was man bereits kennt: es gibt auch rauhe Schönheit, wilde Schönheit, fremde Schönheit...). Oder gruppendynam-ische Abläufe, die sogar aus dem Alltag vertraut sind, zu erfahren und zu durchschauen, indem in Musik verschiedene „Lösungsmöglichkeiten“ durchgespielt werden.
Ein Beispiel: alle spielen im selben milden Gestus, nur einer versucht beharrlich, sich durch seine eigenen aggressiven Melodielinien in den Vordergrund zu drängen und die Ruhe zu stören: wie reagiert die Gruppe auf den Ausreißer? Ignoriert sie ihn? Läßt sie sich von ihm irritieren? Kann sie ihn überzeugen und für sich gewinnen?
Jeder, der jemals im Supermarkt genervt an der Kasse gewartet hat, kennt die Situation und wird imstande sein, ein Musikstück, das an diese Alltagssituation erinnert, zu verstehen.  Durch das Fehlen einer allgemeingültigen musikalischen Grammatik, wie sie etwa in der Zeit Beethovens noch selbstverständlich gewesen war, ist Neue Musik viel besser als irgendein Stil früherer Zeiten imstande, musikalische Situationen wie die hier skizzierte auszudrücken.
Wenn es gelingt, zu vermitteln, daß zeitgenössische Musik – auch oder gerade weil sie von ungewohnten Zusammenklängen Gebrauch macht – von uns Zeitgenossen unmittelbar erlebt und in Zusammenhang mit eigenen Erlebnissen gebracht werden will, beginnen sich die Ohren zu öffnen. Nur da, wo es offene Ohren gibt, kann etwas Gemeinsames entstehen. Es ist eine der schönsten und wichtigsten Erfahrungen, gemeinsam, indem jeder seinen besten Teil –seine Persönlichkeit – einbringt, etwas Neues entstehen zu lassen.
In diesem Sinne sollen diese Zeilen ein Plädoyer für Neue Musik sein. Sie schafft es, aufmerksam zu machen, und Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung dafür, sich gegenseitig zu verstehen und einander näher kommen zu können. Worauf es dabei ankommt, ist in zwei Worten gesagt: offene Ohren.
 


made by Werner Goebl, 06.02.1999