Saitenweise.  . . . . . . . . . .30. April 1998 . . . . . . . . . . Nummer 5

Soundscape

Welche Töne spielen wir da eigentlich?

Aus welchen Gründen ist unser heute verbreitetes gleichschwebend-temperiertes Tonsystem, das die Oktave in 12 gleich große Intervalle teilt, eigentlich etwas Künstliches, ein unvollkommener Kompromiß zwischen reinen Intervallen und Enharmonik. Weswegen stöhnen Streicher, die ja flexibel intonieren können, wenn sie mit Klavier zusammenspielen; weswegen verwenden Freunde der Alten Musik am liebsten ihre alten Temperaturen; weswegen ist denn am heutigen Klavier keine einzige Terz “rein”?
Eine Problematik, die in der Geschichte des öfteren für wilde Diskussionen sorgte, kurz angerissen von Werner Goebl.

Ich muß vorwegschicken, daß das einzige Intervall, das alle Stimmungen, Temperaturen und sonstige Verzerrungen unbeschadet überstanden hat, die Oktave ist, mit ihrem einfachen Frequenzverhältnis von 1:2. Sie erscheint mit dem zweiten Teilton im Spektrum eines harmonischen Klanges und ist damit das “reinste” Intervall, das wir kennen. Sie ist der Anfang der sogenannten Oberton- (oder Teilton-)reihe, die im Klang der (allermeisten) Instrumente und der Singstimme vorkommt.

Diese ist spielend leicht errechnet: Die Grundfrequenz muß einfach mit 2, 3, 4, 5, 6,... multipliziert werden, d.h. Teiltöne sind ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz! So kommt man auf die “natürlichen” oder “reinen” Intervalle: Die Quint (2:3), die Quart (3:4), die große Terz (4:5), die kleine Terz (5:6), der Ganzton (8:9 oder 9:10). Laßt uns nun aus diesen “reinen” Intervallen eine “reine” oder “natürlich-harmonische” Dur-Skala (auch diatonische Skala genannt) herstellen: bestimmen wir einen Grundton für die Tonleiter: c (der Einfachkeit halber). Von dort setzen wir jetzt alle nötigen Intervalle ein: die Oktave, die Quinte, die Quart, die große Terz. Damit haben wir die reinen Töne c–e–f–g–c. Die restlichen Töne konstruieren wir mit diesen Intervallen: die Quart und eine große Terz ergeben eine große Sext (3:4 mal 4:5 = 3:5), also a; die Quinte und ein große Terz ergeben das h (2:3 mal 4:5 = 8:15); und das d erhalten wir durch zwei Quinten hinauf und eine Oktave hinunter (2:3 mal 2:3 durch 1:2 = 8:9). Ein C-Dur-Akkord wirkt in dieser reinen Form besonders klar, schwebungsfrei und “stehend” und wurde damit zum Ideal der Musiker.

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Zwar kannten schon die Griechen die Teiltonreihe, doch konstruierten sie sich daraus eine andere Skala: die “pythagoräische Stimmung” (nach Pythagoras, 6. Jh. v. Chr.). Sie gingen folgenden Weg: neben der Oktave setzten sie die Quint (und die Quart, die ja nichts anderes als die Ergänzung zur Oktave darstellt) absolut (d.h. die Frequenzverhältnisse 1:2:3:4). Aus zwei Quinten gewannen sie die Sekund, aus weiteren zwei Quinten die Terz. Doch Halt! Diese Terz, die aus vier Quinten (2:3 mal 2:3 mal 2:3 mal 2:3, durch zwei Oktaven = 64/81 » 408cents) zusammengesetzt ist, ist wesentlich größer als die natürliche große Terz (386c)!1 Gibt man zu diesen vier Quinten noch weitere acht hinzu, müßte man eigentlich ein Intervall von sieben Oktaven erhalten. Rechnen wir nach: (2:3)12 durch (1:2)7= 524288:531441 oder 23,46 cents, d.h.: es geht sich nicht aus; dieses Fehler-intervall, immerhin ein Viertel Halbton groß, nennt man das “pythagoräische Komma”. Dieses pythagoräische Tonsystem sei hier nur kurz angerissen. Es beherrschte die Musik bis ins Mittelalter und wurde mit dem Aufkommen mehrstimmiger Musik immer mehr verdrängt. Ein Dur-Akkord in dieser Stimmung klingt scharf und wenig rein! Kehren wir daher wieder zur reinen Stimmung zurück.

Wo liegt jetzt das Problem, wenn man diese Stimmung in ein Instrument mit fixierten Tonhöhen einbaut, wie z.B. die Orgel, das Klavier bzw. Cembalo, Clavichord; Harfen, Lauten, Gitarren etc.? Betrachten wir kurz die einzelnen Intervalle der reinen Stimmung: es gibt zwei verschieden große Ganztöne (8:9 und 9:10) und einen Halbton (15:16)! Das macht die Sache schon schwieriger. Es sind zwar die Akkorde auf C, G und F rein, doch schon die die Quinte d – a ist es nicht mehr, sondern erheblich zu klein (680c, vgl. Abbildung)1. Laßt uns nun zu dieser reinen diatonischen Stimmung auf C noch einige chromatische Töne dazukonstruieren; z.B. ein fis, damit eine G-Dur-Skala möglich wird. Gehen wir also vom d mit einer großen Terz zum fis (590c). Dann müßte die G-Dur-Skala eigentlich schon funktionieren. Probieren wir es aus: Vom g ein großer Ganzton, dann ein kleiner... Da stimmts schon nicht mehr. Denn die C-Dur-Skala beinhaltet zwischen g und a einen kleinen Ganzton! Probieren wir noch den Beginn z.B. einer D-Dur-Skala: d – e müßte wiederum ein großer Ganzton sein, also das e auf 408c sein, statt auf 386c der C-Dur-Skala1. Auf welche Tonhöhen soll man sich jetzt bei einem Tasteninstrument einigen, wenn schon bei diesen drei erwähnten durch die verschieden großen Ganztöne sich immer wieder Unstimmigkeiten ergeben? Wie soll man da erst alle 12 Durtonarten unter einen Hut bringen?

Eine elegante Lösung dieser Problematik ergab sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als eini- ge Theoretiker (u.a. Pietro Aron, Gioseffo Zarlino, Lodovico Fogliano) die “Mitteltönige Stimmung” entwickelten. Sie teilten die reine Terz nicht in einen großen und einen kleinen Halbton, sondern nahmen den genau dazwischenliegenden, deshalb auch “mitteltönig”. Ihr Grundprinzip ist die Reinerhaltung der Terzen und die Verkleinerung der Quinten. Das syntonische Komma, um das die pythagoräische Terz im Vergleich zur reinen zu groß ist, wird auf ihre vier Quinten aufgeteilt, d.h.: jede dieser Quinten ist um ein Viertel von 21,5c verkleinert (596,5c). Es werden elf dieser kleinen Quinten angenommen; die zwölfte muß die Differenz der Kommas aufnehmen und wird deshalb zu groß (737,5c), es ist dies das Intervall es – gis und wird “Wolfsquinte” genannt.

In dieser Stimmung konnte man nun in den Tonarten C-, F-, B-, G-, D- und A-Dur mit reinen Terzen spielen. Doch darüberhinaus klingt sie sehr verstimmt, der Wolfsquinte begegnet man schon bei einem Stück in Es-Dur, deren Subdominante As-Dur ist. Die Tonverhältnisse der einzelnen Tonarten sind verschieden, d.h. jede Tonart klingt in ihrer Unvoll kommenheit charakteristisch. Das wurde aber von Komponisten bewußt genützt. Entferntere Tonarten klangen härter und unangenehmer und konnten extremeren Inhalten der Musik besser Ausdruck verleihen. Dieses Kapitel der Tonartencharakteristik sei ein andermal ausführlich behandelt.

Bereits 1681 bzw. 1691 begann Andreas Werckmeister mit seinen Temperatur- vorschlägen die Mitteltönigkeit in Richtung gleichschwebender Temperatur zu nivellieren, um umfangreichere Modulationen möglich zu machen. Johann Sebastian Bach, ebenfalls mitteltönig erzogen, reagierte auf die Werckmeistersche Vorschläge mit seinem Wohltemperierten Clavier (1722 und 1742), in dem er alle 24 Dur- und Molltonarten konsequent und demonstrativ ausnützt. Doch war damit weder eine gleichschwebende-temperierte Stimmung erreicht, wie wir sie heute kennen, noch waren die Diskussionen, die im ganzen 18. und 19. Jahrhundert noch folgen sollten, ausgestanden. Musiker, wie Kirnberger, Marpurg und Silbermann stritten lange um die rechte Art, Instrumente “wohl” zu temperieren. Die Mitteltönigkeit hielt sich noch weit in das 18. Jahrhundert hinein, da besonders Orgeln in Kirchen nur schwer und kostenintensiv auf neue Temperierungen umgestimmt werden konnten. Sogar Komponisten wie Mozart, Haydn und Beethoven wuchsen mit ihr musikalisch auf.

Die heutige gleichschwebend-temperierte Stimmung teilt die Oktave in zwölf gleichgroße Stufen, d.h. jeder Halbton hat das Frequenzverhältnis 1: Wurzel von 2 oder 100 c. Während vorhergehende Systeme einzelne Intervalle rein beließen (bei der Mitteltönigkeit die Terzen), “opfert” man heute alle reinen Intervalle, bis auf die Oktave! Der Temperierungsfehler zur natürlich-harmonischen Stimmung ist quasi auf alle zwölf (Dur)Tonarten aufgeteilt, die somit jegliche Charakteristik verlieren und theoretisch alle gleich klingen. Diese Temperatur stellt heute die Grundlage unseres westlich-abendländischen Tonsystems dar. Unsere Hörgewohnheiten sind schon derart darauf trainiert, daß wir eine reine Terz als zu tief wahrnehmen. Doch bleibt die reine Intonation bei frei intonierenden Instrumenten weiterhin als Ideal bestehen.

1) Das Intervall, das sich aus der Differenz zwischen einer pythagoräischen (64:81) und einer reinen (4:5) großen Terz, bzw. aus der Differenz zwischen großem (8:9) und kleinem (9:10) Ganzton ergibt, nennt man “syntonisches Komma” (80:81 oder 21,5c).


made by Werner Goebl, 11.05.1998, last update 16.08.1998