25. Jänner 1997
Neue Musik
Komponieren heute
Ein paar - persönliche - Gedanken eines (jungen) Komponisten. Unsere Welt scheint immer vielfältiger zu werden, und schwerer zu durchschauen. Auch die Musikwelt. Ein Beitrag von Johannes Kretz
Wie können sich Musik- interessierte in der ver- wirrenden Vielfalt musikalischer Stile und Richtungen zurechtfinden? Wie kann ein Komponist heute seinen persönlichen Standpunkt finden? Soll er zeitkritisch provozieren oder gelassen an den Meisterwerken der Zukunft basteln? Welche Musik unserer Zeit wird man später als Eintagsfliege, welche als Scharlatanerie sehen, was als Geniestreich?
Wie steht es um die ,sogenannte" E-Musik? Also sagen wir: jene Musik, die zwar auch auf ihre Weise gefallen und begeistern will, aber dazu noch einen kulturellen, geistigen Anspruch hat und sich darin mit Theater, bildender Kunst, Literatur, Medienkunst usw. als große Familie sieht.
Jedenfalls ist diese (nennen wir sie dennoch der Einfachheit halber) E-Musik merkwürdigerweise gespalten. Die einen - sagen wir sehr viele - sehen sie als Klassik, und meinen damit ausschließlich die Kunstmusik vergangener Jahrhunderte. Ohne Zweifel sitzen wir auf einem großen Haufen kultureller Kostbarkeiten der Vergangenheit. Wer sich dem mit Interesse widmet, wird darin unendlich viele Schätze entdecken.
Dann gibt es da noch eine andere verschworene Gruppe von Komponisten, Musikern und Zuhörern. Hierzulande - im Vergleich zu Paris zB. - keine Massen, aber doch eine wachsende Schar, die meint, daß der ungeheuren Menge von Kunstmusik aus vergangener Zeit doch etwas Entsprechendes aus unserer Zeit entgegengesetzt werden müßte. Und zwar etwas, das weder der kommerziell orientierten, kurzlebigen U-Musik in allen ihren Facetten entspricht, noch nostalgisch aufgewärmte, leicht mit ,falschen Tönen gewürzte" vergangene Musik darstellt. Sozusagen wirklich neue Musik.
Bevor wir versuchen, hier weiter zu kommen, lohnt es sich, ein paar Gedanken über jenes Phänomen anzustellen, das unsere (ursprünglich) europäische Kunstmusik über Jahrhunderte so großartig und erfolgreich machte: die bahnbrechende Entwicklung der Tonalität. Eine Ordnung der Töne, die über den ganzen Erdball dominierend geworden ist, die aber aus verschiedenen Gründen an ihrem Ende angekommen zu sein scheint. (Dazu später mehr.)
Es fing alles ganz harmlos an. Jahrhunderte lang waren die Melodien des Mittelalters aus einer handvoll von möglichen Sammlungen von Tönen gestaltet worden, den Kirchentonarten, auch Modi genannt. Die Melodien waren einfach, man kam zunächst mit einem Vorrat von sechs bis acht Tönen aus, die auf 8 verschiedene Weisen aus Halb- und Ganztönen zusammengesetzt waren.
Als man dann anfing, mehrstimmig zu singen, kam interessanterweise der Brauch auf, an bestimmten Stellen Töne höher zu singen, als es eigentlich in den Noten geschrieben stand. Geschrieben wurde z.B.: Gesungen/gespielt aber: Der Leitton war geboren. Das scheint zunächst recht unbedeutend. Doch durch diese Adjustierungen entstand aber im Laufe von Jahrhunderten ein raffiniertes System von Ton-Zusammenhängen, das wir heute DUR- MOLL-TONALITÄT nennen.
Ich betone: es entstand, niemand hat es erfunden! Es bürgerte sich über einen sehr langen Zeitraum ein. Wie es weiterging, können wir anhand der Musikstücke der verschiedenen Epochen gut feststellen. Über mehrere Jahrhunderte schrieben die Komponisten immer ausgefeiltere Werke. Wenn es zu verworren oder verschnörkelt wurde (z.B. zur Zeit des späten J.S.Bach), kam es zur Krise. Und die nächste Generation mußte versuchen, neue Wege einfacher, klarerer und ,natürlicherer" Musikgestaltung zu entwickeln. (z.B. Haydn, und Mozart).
Wieso war die DUR-MOLL-TONALITÄT
so erfolgreich? Was ist so besonders an diesem Anordnen von Dreiklängen
(später auch Vierklängen) nach bestimmten Regeln mit gewissen
Freiräumen?
Meiner Meinung nach folgendes: Der Zuhörer konnte und kann selber
entscheiden, wie aufmerksam er einem Werk zuhört: Wenn er nur oberflächlich
dabei ist, so erfaßt er zumindest die Bewegungen der Tonart und weiß
ungefähr, wo im Stück man sich befindet. Hört er genauer
hin, kann er Melodien, Themen und Entwicklungen erkennen, die ihm eine
Art von ,Geschichte" erzählen. Und die besonderen Liebhaber der
Musik, die das Werk vielleicht schon zum x-ten Mal hören, können
im dichten Geflecht der Nebenstimmen und Feinheiten weitere verborgene
Kostbarkeiten heraushören. So haben alle etwas davon.
Im 19. Jahrhundert wurde dieses tonale System dann endgültig überstrapaziert. Seit Wagner wurde es zunehmend beliebter, Tonalität nicht mehr klar darzustellen, sondern eine faszinierende aber auch verwirrende Folge von Anspielungen, Andeutungen und Vortäuschungen verschiedenster Tonarten zu komponieren. Die Grenzen dieser Entwicklung wurden nach 1900 dann zunehmend deutlich. Die so lange erfolgreiche Dur-Moll- Tonalität war restlos ausgelaugt.
Die U-Musik fand noch einen letzten Ausweg in den Möglichkeiten der Akkorde der Jazz-Harmonik. (Jedem Dreiklang werden ein oder mehrere Spannungstöne daraufgesetzt. Das ändert hauptsächlich die Farbe der Akkorde, weniger ihre Funktion.) In letzter Zeit wird aber ganz deutlich, daß die Akkorde und Töne in der U- Musik immer nebensächlicher werden. Das Zusammenwirken von Rhythmus und Sound hat hier viel entscheidendere Bedeutung.
Es mag merkwürdig scheinen, aber: die heutige U-Musik ist eigentlich atonal!
Im Bereich der E-Musik wurde die Verwirrung ungleich größer. Bis heute hat sich kaum ein Tonsystem mehr allgemein durchgesetzt. Verschiedenes ist schon als neue Lösung verkündet worden: Schönbergs Zwölftontechnik, Stockhausens Serialismus, die neue Einfachheit und new complexity. Nur: So überzeugend wie das tonale System konnte keine Strömung werden.
Nun, man kann sagen: Das wäre nicht so schlimm. Heute müsse eben jeder Komponist seine eigenen Strategien entwickeln, spontan von jedem einzelnen Ton zum nächsten den Zufall einbeziehen. Es gäbe nur noch subjektive, individuelle Einzellösungen, das wären eben die Zeichen der Zeit. Heutzutage wäre eben alles ungewiß und alles möglich und jeder könne sich nur auf seine Weise selbst verwirklichen. Kann man sich damit zufrieden geben?
Nun, wagen wir noch einen Blick aus der Welt der Musik hinaus: Wohin wir auch schauen, können wir zunehmende Spezialisierung feststellen: In den Wissenschaften können die Experten (wir wollen ja nicht böswillig von Fachidioten sprechen) ihre Erkenntnisse kaum noch ihren Kollegen aus anderen Fächern (geschweige denn den ,Normalverbrauchern") mitteilen. (Nur um ein Beispiel zu geben:) Zahnarzt, Orthopäde und Masseur müßten oft gemeinsam, also koordiniert behandeln, weil viele Haltungsschäden Zahnprobleme verursachen und umgekehrt eine schlechte Zahnstellung Haltungsprobleme unlösbar macht. Erst wenn sie anfangen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und aufeinander abgestimmt zu handeln (und das geschieht glücklicherweise da und dort schon) werden sie dauerhafte Fortschritte erzielen und teure und erfolglose (weil einseitige und kurzsichtige) Behandlungen vermeiden können.
Zurück zur Kunst: Je größer die Spezialisierung, desto größer die Gefahr, daß man nichts mehr versteht, wenn man nur ein wenig das Gewohnte verläßt: Dann können ,eingefleischte" Theaterbesucher nichts mehr mit Gegenwartsmusik anfangen, Film-Freaks gehen nie in eine Gallerie, und Musik-Enthusiasten entgeht, was für faszinierende Bücher gerade erscheinen. Und je weniger Verständnis es zwischen den kleinen Gruppen mit ihren Spezialinteressen gibt, umso schwerer wird es für jeden, anderen und sich selber den Sinn der Kunst klar zu machen. Was bleibt ist, das jeder seinem eigenen Vergnügen nachgeht, und sich darüber wundert, wie seltsam doch alle anderen sind. Glücklicherweise scheint es so, als ob mehr und mehr kreative Menschen es wagen, gegen den Trend der Spezialisierung aktiv zu sein. Und das wird sehr wichtig sein: Daß kluge und offene Leute Kontakte zwischen den einzelnen Gruppen und Grüppchen herstellen.
Zurück zur Kunst: Welche Wege könnten zu einer
Musik führen, die einerseits neu, frisch, unverbraucht und unerhört
ist, aber andererseits auch für Nicht-Musiker verständlich und
faßbar ist?
Es war schon die Rede davon, daß in der U-Musik das Zusammenwirken
von Sound und Rhythmus entscheidender ist als die Tonhöhen, Melodien,
Harmonien usw. . Das scheint mir kein Zufall: Das Land der Klangfarbe ist
noch weitgehend unerforscht. Außer dem, was unsere klassischen Instrumente
an Klängen hervorbringen können, gibt es noch eine Unendlichkeit
von elektronisch bzw. synthetisch erzeugbaren Klängen. Noch nie gehörte
Farben, die von den Komponisten erst erforscht und benutzt werden müssen.
Die ersten Erfahrungen wurden hier schon gemacht und allmählich wird
es für die junge Komponisten- Generation selbstverständlich,
elektronische Klangmittel (also Synthesizer, Computer usw.) einzubeziehen.
Auch bewirkt die Beschäftigung mit synthetischen Klängen, daß
die Komponisten auf neue Weise sehr sensibel mit Klängen und Klangfarben
umgehen. Danach schreiben sie selbst für reine Instrumental-Besetzungen
auf eine neue Weise.
Ein weiteres Phänomen gibt Anlaß zur Hoff- nung: Zwar hat noch niemand das Ton-System erfunden, das endlich der erfolgreiche Nachfolger der Dur-Moll-Tonalität sein kann. Dennoch scheint es mir doch so, daß wir langsam in eine Situation kommen, die dem Zeitpunkt ählich ist, als die ersten Leittöne in den mittelalterlichen Kirchentonarten herumzuspuken anfingen.
Bei vielen Komponisten (z.B.: O. Messiaen, Y. Höller, Y. Pagh-Pan, E. Carter, M. Jarrell, M. Lindberg, M. Stroppa uvm.) finden sich ansatzweise Versuche, Töne so anzuordnen, daß man hörbare ,Klanggestalten" wahrnehmen kann. Oft handelt es sich um ein System von 5 bis 12-stimmigen Akkorden: Von einem Mutterakkord wird eine große Schar von ,Kindern" abgeleitet.
So gibt es gute Chancen, daß die anspruchsvolle zeitgenössische E-Musik wieder faßlicher wird, und über eine farbige Gestaltung der Klänge direkter auf unsere Wahrnehmung wirken kann. Dazu brauchen wir Komponisten, die nicht immer nur darüber jammern, daß keiner sie versteht, sondern offen neue Wege suchen, das scheinbar so schwierige zu schaffen: Anspruchsvolle, neuartige Musik zu erfinden, die dennoch leicht erfaßbar ist. Musik die reich und komplex ist, (wie ja auch alles menschliche Leben ungeheuer vielschichtig ist, wenn man es unvoreingenommen betrachtet), Musik die aber auch gleichzeitig klar und einfach erscheint.
Vielleicht entsteht auf diese Weise wieder eine gemeinsame, allen verständliche Klangordnung.
Mag. Johannes Kretz, Jahrgang 1968, studierte in Wien Geige, Komposition, Lehramt Musik und Mathematik. Er vertiefte seine Kenntnisse über zeitgenössische Musik in verschiedenen Lehrgängen (u.a.: IRCAM, Paris). Er ist in vielfältiger Unterrichtstätigkeit mit dem musikalischen Nachwuchs beschäftigt (MHS Graz, Wien, Konservatorium Wien). In seinen zahlreichen Werken versucht er in der Gestaltung von Harmonie und Klangfarbe, die er als untrennbare Einheit sieht, räumliche Ordnungen zu entdecken, die sonst nur in der tonalen Harmonik entstehen konnten. Der Computer dient ihm dabei als zentrales Hilfsmittel.
Er ist erreichbar unter der e-Mail:............, bzw.: http:\\www