25. Jänner 1997
Feuilleton
Über die Ungefährlichkeit der Musik
Antal Molnàr, der satirische ungarische Musikwissenschaftler und Feuilletonist, übersetzt von Peter Puskas
Ich habe in der ,Musical World" Jahrgang '69 aus der Feder des brasilianischen Musikwissenschaftlers A. Carreros einen bemerkenswerten Artikel gefunden. Diese geistvolle Schrift zitiert vorweg den bekannten alten Vergleich, die Architektur sei versteinerte Musik. Dies, so sagt Carreros, ist natürlich auch umgekehrt der Fall: die Musik ist flüssige Architektur. Er beruft sich dabei auch auf die Meinung der hervorragendsten Ästhetiker.
Die Größe im musikalischen Schaffen liegt nicht in der Anziehungskraft einzelner Gedanken, Themen oder Motive, sondern im Genie der Konstruktion. Schöne Themen können zahlreiche Musikliebhaber hervorbringen. Eben dies ist, so setzt er fort, bezeichnend für den Diletanten, daß er zwar im Stande ist, sich gefällige einzelne Themen auszudenken, aber unfähig, diese zusamenzufügen, die große Einheit entstehen zu lassen.
Seinen Gedankengang fortsetzend, erklärt Carreros den hauptsächlichen Unterschied zwischen der Klassik und der Romantik. Er beruft sich unter anderem auch auf Thomas Mann, der bekanntlich auch Wagner einen hochrangigen Diletanten genannt hat. Denn, so sagt er, zu Mozarts Zeiten wurde von jedem Dorforganisten eine straffe Konstruktion verlangt, falls er komponierte. Im Gegensatz dazu wurde im vergangenen Jahrhundert die Form nicht so streng genommen. Es wurde kaum auf etwas anderes geachtet als auf die augenblickliche Wirkung der einzelnen Teile.
Wie hängt dies nun alles mit den Prinzipien der Architektur zusammen? - stellt sich der Autor die Frage. Läßt sich denn Architektur aus nachlässig dahingestellten Formen vollbringen? Äußerlich schon, man muß sich nur ein bißchen umsehen.....
Ja, aber eines bleibt bei einem Gebäude immer fest: die Statik, die Konstruktion. Denn wenn diese unsicher wäre, würde das Gebäude unumgänglich zusammenstürzen.
Dazu benötigt es nicht einmal einen Kritiker - fügt Carreros leise ironisch hinzu -, das Gebäude spricht für sich, und zwar weithin vernehmbar, wenn es zusammenstürzt.
Besteht diese Gefahr auch bei einer fehlerhaft geformten, schlecht fundierten, oberflächlich zusammengeschusterten Musik? Nein. Eben dies ist der wesentlichste Unterschied zwischen Architektur (gefrorener Musik) und Musik (flüssiger Architektur). Das schwache Musikstück stürzt offensichtlich nicht ein, und begräbt unter sich weder das Publikum noch die Vortragenden. Oft wird es sogar heftig gefeiert und umjubelt.
Gerade aus diesem Grunde - und hier wird der Autor ernst - ist die Berufung des Musikkritikers aus zwei Gründen wichtig. Genau so wie sich neben einem abbruchreifen Gebäude ein Schild mit der Aufschrift:
Achtung! Lebensgefahr!
befindet, genauso müßte der Kritiker aufmerksam machen, wenn sich bei der musikalischen Form Schwachstellen zeigen.
Diese gefährden zwar nicht das menschliche Leben, aber die ästhetische Stabilität. Damit ist zwar keine folgende Katastrophe verbunden, aber die künstlerischen Folgen sind katastrophal. Die Kunst als Bestandteil der Kultur gefährdet in diesem Fall aber die gesamte Kultur.
Letztendlich stürzt die ganze Kultur ein, wenn wir nicht auf die Verläßlichkeit der Kunstformen achten. Wenn wir es zulassen, daß unter dem Titel "Kunst" Flickwerke die Gipfel des Ruhms erreichen. Letztendlich beweist der Autor Humor. Er empfielt, daß der Kritiker in gegebenem Fall eine weithin sichtbare Tafel vor der ersten Sitzreihe des Konzertsaales anbringt. Und zwar mit folgender Aufschrift:
ACHTUNG! ACHTUNG! !EINSTURZGEFAHR!
Aus: Antal Molnar: Ketzerische Gedanken über die Musik, Budapest, Gondolat 1976.
Ungarischer Musikwissenschaftler, Komponist, Pädagoge, Bratschist beim Waldbauer Streichuartett; sowie beim Dohnány - Hubay Klavierquartett; von 1919 -1959 Unterricht an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest (Musikgeschichte, Ästhetik, Kammermusik, Theorie). Gilt als einer der Begründer der modernen ungarischen Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Zahlreiche Schriften auf dem Gebiet der Musikgeschichte, der Musikästhetik (auch unter Miteinbeziehung von soziologischen und psychologischen Aspekten). Zahlreiche Kompositionen für Orchester, Kammermusik, Chorwerke und Instrumentalkonzerte.