Saitenweise.  . . . . . . . . . .30. Jänner 1998 . . . . . . . . . . Nummer 4

Feuilleton

»Alles fließt«

Antal Molnár

Von dieser altgriechischen Sentenz ausgehend, erörtert Antal Molnár durchaus brisante Fragen der Musikpraxis auf seine Weise. Aus dem Ungarischen übertragen von Peter Puskas

Der weise und berühmte altgriechische Spruch ist auf der ganzen Linie gültig, genauso in bezug auf die Geschichte, wie auf Stoffe der anorganischen Chemie. Denn nicht einmal die Atome in einem Felsen sind beständig: der gestrige Stein war ein anderer als der heutige, und dieser wiederum ist nicht derselbe wie der vor zwei Tagen. Das Überordnen unveränderlicher Kategorien – sei es auf Stoffe oder sogar auf die gesamte Geschichte – ist nicht eine Resultat der Bestandteile, sondern vielmehr unseres Geistes. Es ist unser Gehirn, welches die allzu große Vielfalt nicht erträgt und sich daher um die Vorstellung von Einheiten und Zusammenhängen bemüht. Wenn es Zeitalter festlegt, wird über alle Maßen vereinfacht. Ohne das könnten wir uns sicherlich nicht zurechtfinden. Deshalb heben wir aus den geschichtlichen Tatsachen solche Eigenheiten hervor, die mit ein bißchen gutem Willen dem ganzen Umfeld aufzuzwingen sind, und so spricht man dann von Renaissance, Barock, u.a.

Wenn sich hie und da herausstellt, daß das so nicht ganz stimmt, könnte man mit einem von Fichte stammende Satz antworten: Ihm sagte einmal jemand, daß seine Beobachtungen nicht mit den Tatsachen übereinstimmten; darauf antwortete der Philosoph: “Um so schlimmer für die Tatsachen!” Ein anderer Spruch besagt, daß das geschriebene Wort ungleich beständiger ist, als das gesprochene. Wir achten sogar die in Stein gemeißelte Keilschrift sehr hoch, deren Entzifferung ein großer Fortschritt ist, da dies Einblick in bis dahin vergessene und verdeckte Umstände erlaubt. Dies ist auch gut so. Aber die Schrift ist nicht alles. Die Frage bleibt, wer (unter welchen Voraussetzungen) die Schrift seinerzeit verfaßt hat, wer sie gelesen hat, wer sie verstanden hat, wer sie befolgt hat (und wie) und vor allem: welcher Gedankenkontext damit verbunden war. Wir bemerken oft bei Übersetzungen von fremdsprachigen Texten, daß die Übersetzung zwar sinngemäß das Original befolgt, die Übersetzung aber – naturgemäß – nie den selben Eindruck wie das Original hervorruft.

Dasselbe ist auch bei den schriftlichen Dokumenten aus unserer Vergangenheit tausendmal gültig. Die Musikwissenschaft ist im Stande, vieles bei den vorhandenen, unvollständigen schriftlichen Zeugnissen zu ergänzen. Je älter das jeweilige Notenbeispiel ist, desto eher wird es nur noch von Wissenschaftlern gelesen, bzw. desto eher bedarf es der oben erwähnten Ergänzungen. Dies rührt daher, daß die Musiker des 18. Jhdts. sich alle auf die Kunst der Komposition verstanden. Natürlich hat sich der Komponist auf diese Fähigkeit verlassen. Bis um 1800 war die Kunst das Notenbild selbständig auszufüllen, zu ergänzen, lebendig, da ja das basso-continuo-Spiel eines der Hauptfächer in der musikalischen Erziehung war. Wir wissen also zum größten Teil wie z.B. ein Text von Josquin auszufüllen ist; oder wie in neuen Ausgaben Vieles zu ergänzen ist, was Monteverdi zu notieren nicht für notwendig hielt. Dies stimmt zwar alles, aber wir sind nicht im Stande, das damalige Publikum neu zu erschaffen, mit seinen Empfindungen, dem Umfeld und den emotionellen und gedanklichen Verbindungen. Wir können die geschichtliche Entwicklung der Werke leider nicht verfolgen: wie sich die Zuhörerschaft geändert hat, die Meinung über das Werk, die Wirkung über die Jahrhunderte hinweg.

Oft ist es zur (nahezu aus- sichtslosen) Bewältigung dieser Menge an Fragen eine große Erleichterung, daß von Zeit zu Zeit das jeweilige Meisterwerk dem totalen Vergessen zum Opfer fällt. Vom großartigen Orlando di Lasso war zwischen 1650 und 1850 kaum anderes als der Name bekannt. Palestrina mußte auch vom aufstrebenden Bürgertum neu entdeckt werden. An Bach erinnerten sich lange Zeit nach seinem Tod nur einige sonderliche Organisten, und so weiter. Vorausgesetzt (wozu wir doch einiges Recht haben), daß wir das alte Notenmaterial richtig aussetzen, bleiben gewichtige Zweifel übrig. Können wir denn so zuhören, die Musik mit den selben Emotionen verfolgen, wie es unsere Ahnen getan haben? Es ist höchst wahrscheinlich, sogar sicher, daß diese Frage leider mit Nein beantwortet werden muß. Die Rekonstruktion alter Instrumente schadet nur der Glaubwürdigkeit, denn was einmal als natürlicher Klang gegolten hat, mengt der Wirkung heutzutage eher den merkwürdigen Geschmack von eigenartiger Altertümlichkeit bei!

Aber vor allem fehlt die seinerzeitige Weltanschauung, die gesellschaftliche Zusammensetzung der Zuhörerschaft, der Bildungsstand des gebildeten Publikums bzw. der Musiker, der eigentliche Zweck (die Funktion) der Musik. Nur als Beispiel: Die Matthäus-Passion war Bestandteil der österlichen Liturgie, und nicht eine Chorveranstaltung mit gedruckten Erläuterungen im Konzertsaal und applaudierendem Publikum.

Aus: Antal Molnár: Eines Ketzers Gedanken über die Musik, Budapest, Gondolat 1976

Antal Molnár (1890 - 1983)

Musikwissenschaftler, Komponist, Pädagoge, Bratschist beim Waldbauer-Streichquartett sowie beim Dohnányi-Hubay-Klavierquartett. Von 1919–1959 Unterricht an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest (Musikgeschichte, Ästhetik, Kammermusik, Theorie). Gilt als einer der Begründer der modernen ungarischen Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Zahlreiche Schriften auf dem Gebiet der Musikgeschichte, der Musikästhetik (auch unter Miteinbeziehung von soziologischen und psychologischen Aspekten). Zahlreiche Kompositionen für Orchester, Kammermusik, Chorwerke und Instrumentalkonzerte.

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